Wer die Burgstraße entlangläuft und in die Lafontainestraße einbiegt, der kommt auf der rechten Seite an einem großen Haus vorbei. Es trägt den liebevollen Namen „Mutterhaus“. In jenem Haus, im großen Speisesaal, findet jährlich zur Weihnachtszeit ein schönes Ritual statt: Mit Hilfe von echten Tannenbäumen, kleinen Veilchen und vielen Tannenzweigen wird dort eine große Krippe aufgebaut. Die Krippe ist ein Geschenk der Schwestern an das Haus. Dafür sparten diese von ihrem Taschengeld jedes Jahr ein Sümmchen zusammen und so konnte die Oberin nach und nach schöne Holzfiguren bestellen.
In der Zeit vom 24. Dezember bis 6. Januar können Besucher an die Krippe kommen, diese bestaunen und an bestimmten Tagen Gottesdienst an der Krippe feiern. Außerdem besteht die Gelegenheit mit einer der Schwestern ins Gespräch zu kommen. Eine, die seit vielen, vielen Jahren ihren Dienst an der Krippe leistet, ist Schwester Brunhilde Schröder.
Unser erstes Treffen findet an einem Dienstagnachmittag im Oktober 2015 statt. Ich fahre mit dem Fahrstuhl in die 2. Etage und klingle. Schwester Brunhilde kommt mir, auf ihren Stock gestützt, den Flur entgegen. Kurz darauf sitzen wir in ihrem Wohnzimmer am festlich gedeckten Tisch, trinken Tee, essen Kuchen und reden über Gott und die Welt.
In früheren Zeiten lebten bis zu 280 Schwestern im Mutterhaus. Heute leben noch zwanzig Schwestern, die Jüngste ist über siebzig Jahre alt. Schwester Brunhilde ist 91 Jahre alt. Das Häubchen sitzt auf dem weißen Haar. Sie hat ein gütiges, liebenswertes Gesicht und sie lacht gern und viel. Viele Veränderungen, Brüche und Machtwechsel hat Brunhilde Schröder in ihrem Leben erlebt. Währungen tauchten auf und wurden ersetzt. Als kleines Mädchen, erinnerte sich Brunhilde in unserem Gespräch, bekam sie von ihrer Urgroßmutter manchmal einen Taler geschenkt.
Sie sah die Nazis kommen und gehen. Sie erlebte die DDR-Zeit, die die Menschen ebenso von Gott entfernte. Das Diakoniekrankenhaus musste der russischen Armee zur Verfügung gestellt werden. Jahrelang ging eine Mauer quer durch das Gelände, die das Mutterhaus vom Krankenhaus trennte. Geblieben über alle Zeiten hinweg ist Brunhilde Schröder ihr Glaube an Gott und ihr Humor. „Den muss man sich behalten“, sagt sie zu mir.
Das Wort Diakonisse bedeutet „Dienerin“ und natürlich interessiert mich, wie aus dem kleinen Mädchen Brunhilde, dass in Seehausen geboren wurde, Schwester Brunhilde wurde. „Ganz normal religiös aufgewachsen“, sei sie, was heißen soll, mit Gottesdienst am Sonntag und Tischgebet. So erlebte Brunhilde eine schöne Kindheit. Die Mutter, eine gelernte Fotografin, war Hausfrau, der Vater arbeitete als Sparkassenrendant. Brunhilde war ihr ältestes Kind und wuchs behütet gemeinsam mit dem zwei Jahre jüngeren Bruder und der elf Jahre jüngeren Schwester auf.
Als der Krieg ausbrach, war Brunhilde 15 Jahre alt. Zu dem Zeitpunkt besuchte sie die Haushaltsschule in Elbingerode im Harz. In dem kirchlich geführten Haus lebten und arbeiteten damals auch Schwestern. Die junge Brunhilde lernte dort kochen, backen, bügeln, nähen und sticken. Sie wäre auch eine gute Hausfrau geworden, bestätigt sie mir. Doch es gab für sie eben einen anderen Weg und zunächst sollten noch viele Jahre ins Land gehen. Von Elbingerode aus ging Brunhilde ins Kindergärtnerinnenseminar nach Marburg an der Lahn. Die Einrichtung wurde kurze Zeit später von der nationalsozialistischen „NSV“ übernommen. „Keine gute Zeit“, erinnert sich Brunhilde Schröder.
Ihre Familie daheim in Seehausen hatte während des Krieges Glück im Unglück. Bis auf die Großmutter, die ausgebombt wurde, blieben alle unversehrt. Brunhilde kehrte 1945 heim. Für junge Leute, wie sie, gab es damals kaum Freizeitangebote nach dem Krieg, und so verbrachten die jungen Leute viel Zeit in der jungen Gemeinde. Der Pastor („der was drauf hatte“) kümmerte sich gut um seine „Schäfchen“. Einige der jungen Leute traten später in den Dienst der Kirche ein.
„Wir wurden irgendwie so angeregt“, erzählt mir Schwester Brunhilde und schildert die schweren Zeiten nach dem Krieg, in denen die Menschen nach etwas suchten, worin sie Halt finden konnten.
Und dann wurde Brunhilde angefragt, ob sie in dem Kindergarten in Elbingerode arbeiten würde. „Ach, dachte ich, das war ein Fingerzeig“, erinnert sich Brunhilde Schröder. Sie beschreibt mir, wie wir von Menschen (die sie Engel nennt) begleitet werden, sobald wir den für uns vorbestimmten Weg beschreiten.
Später führt ihr Weg, über einen Kontakt des Pastors aus Seehausen, hierher nach Halle ins Mutterhaus. Auch nach all den Jahren weiß sie noch ganz genau, welcher Tag das war: der 20. Mai 1949.
Bis zur Weihung als Diakonisse sollten jedoch noch einige Jahre ins Land gehen. Keine einfache Zeit. Manchen innerlichen Kampf focht auch Brunhilde Schröder aus. Besonders beeindruckt habe sie damals die Geschichte aus der Bibel, die vom reichen Jüngling handelt. Neun Jahre später war es dann endlich soweit: Am 26. Oktober 1958 wurde aus Brunhilde Schröder Schwester Brunhilde.
Diakonissen leben, ähnlich wie ihre katholischen Schwestern, ein Leben für Gott. Sie stellen ihre Kraft in den Dienst der Kirche, wobei sie, im Gegensatz zu den katholischen Nonnen, durchaus auch wieder austreten könnten. Die meisten Schwestern arbeiteten als Kindergärtnerinnen, Krankenschwestern oder als Gemeindeschwestern an kirchlichen Häusern, in die sie entsendet wurden.
Gehalt bekamen sie nicht, ausgezahlt wurde ein Taschengeld. Schwester Brunhildes Weg führte über Großkreuz nach Erfurt, wo sie unter anderem 14 Jahre als Gemeindeschwester der Thomasgemeinde diente. Es war ein schöner Dienst und ein schwerer. „Wenn wir gearbeitet haben, haben wir eben gearbeitet“, sagt Schwester Brunhilde und erzählt, wie sie in den Wintermonaten oft auch nachts gerufen wurde. Sie sah viel Leid und begleitete viele Menschen beim Sterben.
Für Jeden sofort erkennbar tragen Diakonissen eine dunkelblaue Tracht, ein weißes Häubchen auf dem Kopf und um den Hals ein großes, silbernes Kreuz. Heute sind die Stoffe leichter als früher und für den Sommer gibt es ein kurzärmliges Kleid. Auch die Häubchen sind einfacher und müssen nun nicht mehr nach jedem Waschgang neu aufgerüscht werden.
In ihrem Leben als Diakonisse ist Brunhilde Schröder immer ihren eigenen Weg gegangen, mit ganz leichten Übertretungen, mal hier, mal da. Lachend berichtet sie, wie sie im Sommer heimlich ihre Ärmel hochrollte, um ein wenig Erleichterung von der Hitze zu finden. Auf die Frage, was das Schönste am Leben als Diakonisse war, antwortet sie: „die Gemeinschaft“. Wenngleich sie anmerkt: „dass da, wo viele Frauen zusammenarbeiten, es auch immer mal Zank und Streit gäbe“. Ihre beste Strategie war dann, dem Ärger erst einmal aus dem Weg zu gehen und anschließend über alles in Ruhe zu sprechen.
Wie mit Schwester Hilde Klar, die ich vor vielen Jahren eines Tages auf der Straße kennenlernte und die mir im Leben eine wichtige Begleiterin war, kann ich auch mit Schwester Brunhilde über die verschiedensten Themen sprechen. Mit ihren 91 Jahren ist sie auf der Höhe der Zeit und macht sich Gedanken zu aktuellen Themen. „Bin ich froh, dass ich kein großer Mann geworden bin“, zitiert sie Matthias Claudius. Politiker täten ihr leid, denn oftmals seien sie doch zu machtbesessen.
Wir kommen zum Thema Krieg und ich möchte ihre Meinung dazu hören. Auseinandersetzungen und Kriege habe es schon immer gegeben, von Anfang an, so stünde es auch in der Bibel geschrieben, sagt sie. Große Sorgen mache sie sich, weil die Kriege jedoch immer schrecklicher werden. Ihre Sorgen und Nöte darüber trage sie, wie anderen Kummer auch, zu Gott. Denn viele Sorgen und Probleme wären für uns Menschen zu groß.
Ich weiß nicht mehr, wie ich auf die Idee kam, doch plötzlich frage ich Schwester Brunhilde, ob sie auch mal im Ausland gewesen sei. Die Antwort versetzt mich in Staunen. Schwester Brunhilde erzählt mir, dass sie von ihrem Taschengeld für schöne Urlaube sparte. Offiziell erlaubt reiste sie so, mit einigen Mitschwestern, in ziviler Kleidung durch Europa. Reisen führten sie unter anderem nach Griechenland, Israel und nach Skandinavien.
Zufrieden und glücklich wirkt Schwester Brunhilde auf mich und mich interessiert ihr Rat, wie Menschen heute einen Weg zu Gott finden könnten. Zunächst gelte es, den Menschen „ein gutes Vorbild zu sein“, meint Schwester Brunhilde und „das unser Leben Verkündigung sein muss“. Menschen, die für sich einen Halt oder neuen Weg suchen, könnten Gott oder Jesus anrufen. Denn „Jeder trage ein Gefühl für Glauben in sich“, fährt sie fort, „nur sei es eben über die vielen, vielen Jahre in uns verschüttet worden“. Auch die Bibel könnte ein guter Ansatz sein, empfiehlt sie. So könne man einfach anfangen zu lesen und „irgendwie wird man doch mal angeredet“ ist ihre Überzeugung.
Ich erzähle ihr, dass ich in den letzten Wochen immer wieder fasziniert von den Worten im Kapitel Prediger bin. Ganz aktuell gefällt mir dieser Spruch aus Prediger 9,17: „Der Weisen Worte, in Ruhe vernommen, sind besser als des Herrschers Schreien unter den Törichten.“ Gefragt nach ihren Lieblingsstellen in der Bibel erzählt sie von der Jakobsgeschichte, „die so spannend wie ein Krimi sei“, oder vom Johannes-Evangelium, welches sie sehr möge.
Bei meinem nächsten Besuch frage ich Schwester Brunhilde, ob sie einen Gegenstand seit ihrer Kindheit habe, den sie mir zeigen könnte. Daraufhin helfe ich ihr, ihre Fotoalben aus dem Schrank zu holen. Groß ist ihre Freude, als wir uns gemeinsam die Fotos anschauen. Darunter alte Aufnahmen aus dem Jahr 1929 in unglaublich guter Qualität. Zwischen diesen Aufnahmen und Heute liegen mehr als acht Jahrzehnte, die man den Fotos nicht ansieht. Auch Schwester Brunhilde sieht man ihr Alter nicht an. Sie ist lebendig geblieben und in ihrem Gesicht erkenne ich die wachen Augen und den lachenden Mund des kleinen Mädchens aus dem Album. Auf meine Frage, ob sie heute noch einmal Diakonisse werden würde, sagt sie ohne Zögern „ja“. Sie wollte immer dienen und genau das habe sie getan.
Ohne Furcht geht sie daher auch mit dem Thema Tod um, der für mich, als Trauerrednerin, auch eine zentrale Rolle in meinem Leben spielt. Wir sprechen über die Seele, unserem Atem, der uns (von Gott) gegeben wurde. Wir beide glauben, dass dieser im Augenblick des Todes unseren Körper, unsere Hülle, verlässt, um dann, eines Tages, wieder geschaffen zu werden. Für die Vorstellung dieser Reise hat Schwester Brunhilde ein Bild, dass sie vor vielen Jahren auf einer Postkarte sah: Darauf war ein langer, dunkler Tunnel zu sehen, an dessen Ende ein helles Licht zu erkennen war. Dort angekommen werden wir dann, so unsere Vorstellung, unsere anderen, verwandten Seelen wieder treffen, unsere Eltern, Geschwister und alle, die wir liebten.
In wenigen Wochen wird die Krippe im Mutterhaus wieder aufgebaut. Dann werde ich mit meiner Familie, wie jedes Jahr, dorthin gehen. Wir werden die schönen Holzfiguren bewundern, vielleicht ein Weihnachtslied anstimmen und im Stillen der Schwestern gedenken, die uns dieses wundervolle Geschenk hinterließen. Eine von ihnen wird dann hoffentlich wieder an der Krippe sitzen und gern mit uns, den Besuchern, plaudern: Die Diakonisse Brunhilde Schröder. Eine Dienerin Gottes.
Wir, Ricarda Braun und Berit Ichite, danken Schwester Brunhilde Schröder für die netten Stunden mit ihr. Für den liebevoll gedeckten Tisch, für ihr Vertrauen und ihr herzhaftes Lachen.
(Auszug aus: „Ein Leben für Gott – Die Diakonisse Brunhilde Schröder“)
(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)