Eine meiner schmerzlichsten Kindheitserfahrungen ist die: an meinem 10. Geburtstag ging ich mit meinem neuen, langersehnten Portemonnaie, das wie ein Hund aussah, zum Bäcker. Als ich mit dem Brot nach Hause kam, merkte ich, dass ich zwar das Brot hatte, aber mein Portemonnaie nicht. Ich rannte zum Bäcker zurück, doch es war weg und obwohl ich bitterlich weinte, bekam ich kein neues geschenkt. Seit jeher passe ich sehr auf meine Geldbörse auf. Und was soll ich sagen: Gott sei Dank, habe ich nie wieder eine verloren.
Es ist diese Begebenheit, an die ich mich erinnere, als ich an einem Mittwoch im März in jenen Bäckerladen von damals gehe. Doch es gibt noch ein anderes Bild, dass vor meinen Augen auftaucht: vom Laden aus konnte ich als Kind sehen, wie Bäckermeister Kolb früher mit seinen Damen unten am Tisch frühstückte.
Heute bin ich zum Gespräch verabredet und zum Frühstück. Karl Kolb isst gern, dass sagt er und das sieht man auch. Wir räumen die Stühle, stellen alles auf den Tisch und lassen uns die Brötchen und das Brot mit Käse und Wurst schmecken.
Karl Kolb frühstückt wie damals morgens halb acht. Das dunkle Haar von früher ist grau geworden, mittlerweile ist Karl Kolb fast achtzig Jahre alt. Er arbeitet immer noch, fünf Tage die Woche. „Das Rumsitzen ist mir nüscht“, sagt er und sein Sohn Holger, der ebenfalls in der Bäckerei arbeitet, ergänzt: „er braucht das“. Der Vater sei eben ein richtiger alter Handwerker.
Ob er von Anfang an Bäcker werden wollte, ist eine meiner ersten Fragen an Karl Kolb. „Die Richtung wurde mehr oder weniger vorgegeben“, meint er, denn schon sein Vater und Großvater waren Bäcker. Also half der kleine Karl, einziger Sohn des Vaters, schon beizeiten mit in der Backstube, vor allem Samstags und bevor er in die Schule ging.
Acht Jahre besuchte Karl Kolb die Lessingschule und war, nach eigener Erzählung, ein schlechter Schüler, der einmal sitzen blieb.
Von den Schülern wurde der Lehrer Kunze, ein Kriegsversehrter “mit anderthalb Holzbein“ absichtlich gefoppt, denn wenn der einen Wutanfall bekam, dann tobte er und es „war kein Unterricht“. 48 Schüler waren damals in einer Klasse und wer dem Lehrer antwortete, der musste aufstehen.
Geboren im Oktober 1938 kann sich Karl Kolb noch gut an Ostern ’44 erinnern. „Damals bekamen wir Ostereier von den Amerikanern in Form von Bomben“, erzählt er und erinnert an die Einschläge in der „Frohen Zukunft“ bis hin zum Markt. Auch in der Nähe der Schillerstraße schlugen Bomben ein, unter anderem auf dem Nordfriedhof und in das Hinterhaus der Lessingstraße 35.
Seinen Vater sah der kleine Karl übrigens während des Krieges viele Jahre nicht. Sechs Jahre lang war Vater Kolb Soldat im Krieg in Tunesien. Die Bäckerei blieb zu und die Mutter Gisela – „ne ganz Liebe“ – ging in der Zeit bei Leuten nähen und flicken. Harte Zeiten waren das und deshalb findet es Karl Kolb „grausam“, wenn Leute Essen wegwerfen. „Die haben nie Hunger leiden müssen“, sagt er dazu.
Dreieinhalb Jahre nach Kriegsende konnte der Vater den Laden wieder öffnen. Sein Sohn Karl lernte nach der Schule den Beruf des Bäckers bei Oskar König in Trotha. Anschließend machte er zusätzlich eine Ausbildung zum Konditor im Café Fritze (in der Steinstraße).
„Lehrjahre sind keine Herrenjahre.“ Wer das Porträt vom Sattlermeister Karsten Weidner las, erinnert sich vielleicht an diesen Satz. Auch Karl Kolb weiß noch heute, Jahrzehnte nach seiner Bäcker-Ausbildung, wie hart und streng diese war. „Die zum Konditor war besser“, meint er und erzählt von dem Glück, das er hatte. Zwei Gesellen legten damals die Meisterprüfung ab und so lernte er viele Dinge mit. Zum Beispiel wie man Zuckerrosen aus heißem Zucker zieht.
Trotz der Ausbildungen und der mittlerweile bestandenen Meisterprüfung gab es dennoch eine Zeit, da wollte Karl Kolb kein Bäcker mehr sein. Zwei Jahre lang arbeitete er damals in der Molkerei. Eine Zeit in der er, nach eigenem Erzählen, vieles kennen lernte, was er sonst eben nicht kennen gelernt hätte. Er wäre auch weiter weg gegangen, um raus zu kommen. Doch den Wunsch, zur „Schwarzen Pumpe“ in die Lausitz zu ziehen, ließ er der Mutter zu liebe bleiben.
Und irgendwann traf er die Entscheidung, die Bäckerei zu übernehmen. Er riss den alten Backofen ab, baute einen neuen ein und eröffnete am 25. April 1978 neu. Da er anfangs ganz allein in der Backstube stand, half ihm sein Vater Walter täglich für zwei Stunden in der Früh.
Wie hat er diese Zeit allein geschafft? „Arschbacken zusammen kneifen, dann durch und los“, meint er und sagt weiter: „Wenn Sie das können und Ihre Freizeit an den Nagel hängen, dann geht es auch.“ Die ersten zwei Jahre waren hart. Jeden Tag arbeitete Karl Kolb von morgens halb zwei bis abends um zehn. Zwanzig Jahre lang hielt er den Laden hintereinander auf. Urlaube verbrachte Karl Kolb mit seiner Familie auf einem Zeltplatz am Havelsee.
Inzwischen hat Karl Kolb viel von der Welt gesehen. Während der Urlaubszeit ist der Laden zu. „Man muss abschalten können und den Betrieb Betrieb sein lassen, auch im Alltag“. Heute ist das Wunderbarste am Beruf „der Feierabend“ und ein Morgen auch für ihn dann am Schönsten, „wenn man ruhig weiterschlafen kann“.
Ganze Generationen haben Karl Kolb, seine Frau Bärbel und seine Angestellten heranwachsen sehen. Die Leute kommen gern in den Laden, der mit seinem Charme an längst vergangene Tage erinnert. Die Einrichtung mit den weißen Regalen und der großen Theke hat sein Vater 1936 anfertigen lassen, als er den Laden umbaute. Und vieles mehr ist gleich geblieben. Nach den alten Traditionen seiner Lehrmeister backen Karl Kolb, sein Sohn und die zwei Gesellen Marko und Nils auch heute noch: die Brötchen, das Brot, die Kuchen und Torten. Eine Sache jedoch ist mit Karl Kolb auf alle Fälle neu geworden in der Schillerstraße: als einzige Bäckerei in Halle darf er sich Hallorenbäckerei nennen. Eine Ehre die Karl Kolb von der Salzwirkerbrüderschaft verliehen wurde. Er selbst ist Hallore auf Lebenszeit. Ein Foto von ihm in Festkleidung hängt im Laden. Umrahmt von denen seiner Eltern und Großeltern. So verwebt sich Altes mit Neuem und besteht hoffentlich fort und fort.
„Schöne Zeiten habe ich erlebt“, sagt Karl Kolb. Auf meine Frage, wie er sich mit fast achtzig Jahren fühlt, antwortet er: „Ich kriegs nicht richtig in Griff. Man weiß, wie alt man geworden ist. Aber man weiß nie, wie alt man wird.“ Damit alle Geschichten bewahrt werden, schreibt Karl Kolb übrigens an seinen Memoiren. Das vergangene Jahrzehnt fehlt noch. Daran schreibt er nun – mit dem Computer.
Wir, Ricarda Braun und Berit Ichite danken Karl Kolb für die tiefen Einblicke die er gewährte. Er las uns sogar, trotz aller Verschwiegenheit, aus seinen Memoiren vor. Und er hatte noch einen guten Tipp für uns, den wir gerne weiterreichen: „Sich immer mit etwas beschäftigen“ riet Karl Kolb im Gespräch. Das könne auch bedeuten: heute viel tun, morgen gar nichts. Wir sind eben Menschen und keine Maschinen. Ein guter Tipp finden wir.
(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)