Es ist abends halb acht und ich singe „miau, miau, miau“ und „momomom“. Es ist Chorprobe im Künstlerhaus 188 am Böllberger Weg und ich wärme meine Stimme auf. Wir haben schon ein paar Mal gelacht an diesem Abend und das ist gut so. Denn „eine Probe in der nicht gelacht wird, ist keine gute Probe“, so Bine, alias Sabine Bauer. Mit ihrem Mann Manfred Wipler, gemeinhin nur als „Wippi“ bekannt, leitet Bine diesen Chor, den „Lehrerchor der Stadt Halle“. Beide sind Rentner und genießen die Zeit, die es ihnen ermöglicht, bewusst in Ausstellungen, Museen, in Konzerte, ins Theater oder ins Kochstudio gehen zu können.
Ich war neun Jahre alt, als ich im Steintor-Varieté ein Schülerchorkonzert hörte. Danach wollte ich unbedingt auch in diesem Chor singen und so meldete mich meine Mutter an. Zehn Jahre, die prägendsten Jahre meiner Kinder- und Jugendzeit, war ich Mitglied im Pionier- und FDJ-Ensemble (dem späteren Kinderchor der Stadt Halle). Die wöchentlichen Proben ersparten mir die Pioniernachmittage und da wir auch im „Block der Jugend“ bei den Maifeiern sangen, musste ich im Klassenverband nicht mitdemonstrieren. Politisch gebildet hat mich der Chor dennoch, auf eine ganz besondere Art und Weise. In den Proben wurde auch über politische Themen gesprochen und da Bine und Wippi immer auf der Seite der Kinder standen, teilten beide mit uns ihr Interesse an allem, was auf und in der Welt geschah. Ich erinnere mich an Friedenslieder, die wir mit ehrlicher Überzeugung sangen und an Kriegslieder wie „Rauch steigt vom Dach auf“, bei denen ich einen Kloß im Hals hatte. Die DDR bot Sabine Bauer und Manfred Wipler, beide waren zu der Zeit als Lehrer tätig, „paradiesische Zustände“. Denn einen Chor zu leiten, bedeutet viel Arbeit und für die Chortätigkeit erhielten beide „Abminderungsstunden“, deren Anzahl erhöht wurden. Später wurde ihnen ein Lehrergehalt für ihre Tätigkeit gezahlt und beide waren am Pionierhaus angestellt. Viele hundert Kinder genossen eine lehrreiche, abwechslungsreiche Zeit in diesem Kinderchor.
Nach einem Besuch beim Kinderchorfestival in Olomouc stellten Sabine und Manfred das Kinderchorfestival auf die Beine, das einzige dieser Art in der ehemaligen DDR. Diese Tage mit ausländischen Chören, deren Mitglieder privat in halleschen Familien untergebracht wurden, zählen mit zu den schönsten Tagen meiner Kindheit. Bis zu sechs Kinder nahmen meine Eltern auf und irgendwie war es immer lebendig, anstrengend und sehr besonders. Da war der kleine Junge aus Rumänien, der flink wie ein Äffchen in den Baum vor unserem Haus kletterte, um ein Spielflugzeug zu holen. Oder die tschechischen Mädchen, die die Marmelade auf die Brötchen strichen und lachten, als wir ihnen zeigten, dass man diese auch aufschneiden kann. Viele Chöre besuchten wir im Gegenzug und manche Freundschaften halten bis heute. Vor zwei Jahren besuchte ich mit meiner Familie Tamas in Szeged, bei ihm war ich als 12-jährige zu Gast.
Die vielen Auslandsreisen waren die Höhepunkte der Chorzeit. Wir reisten nach Tschechien, Ungarn, Bulgarien und nach der Wende durch viele Länder Europas. Insgesamt vier Mal weilte der Chor auch in Südafrika, „die Spitze unter den Reisen“ wie Bine und Wippi einhellig erzählen. Natürlich gab es vor der ersten Reise viele Ängste und Sorgen: der weite Flug, Aids, Gewalt. Alle Kinder wurden auch dort privat in Familien untergebracht. „Das haben wir immer so gemacht“, sagt Wippi. Manche Kinder waren zwei Mal in Südafrika und besuchten dabei auch behinderte Kinder in einem Township – ein paar Stunden, die für immer nachwirken.
„Wir haben bei allen Aktionen geschaut, dass es für Kinder nachvollziehbar ist“, sagt Bine und auch ich kann mich an den offenen und ehrlichen Umgang mit uns Kindern erinnern. Forderungen wurden begründet, alle Verbote erläutert und gleichzeitig fühlte sich der Chor wie ein starker Rückhalt an. Neben der Freude am Singen lernten wir Verantwortungsbewusstsein, Disziplin und jede Menge soziale Kompetenzen. Wir wurden ernst genommen und auf Augenhöhe behandelt. So gab es für 16-jährige den berühmten Ausgehabend im Winterchorlager mit Bine und Wippi, inklusive Alkoholgenuss. Im Sommer, bei schönem Wetter, waren die Proben manchmal sehr anstrengend, doch natürlich genossen wir auch genügend Freizeit bei Ausflügen und die Mittagspausen im warmen Ostseesand.
Über die schwierige Wendezeit bewahrten sich Manfred und Sabine ihre Ideale. Als es plötzlich hieß „Erziehung ist Elternsache“, kämpften sie mit dem Rückhalt der eigenen und dem der Chorfamilien um das Überleben des Kinderchores. Für ein paar Jahre fand sich eine Heimstatt in der Silberhöhe. Und wer mag sagen, wie viele Kinder auch davon profitierten? Meine Mitgliedschaft im Kinderchor beeinflusste nicht nur mich. Auch meine Geschwister waren zeitweise im Chor, alle Freunde und Bekannte wussten davon und kamen gern zu den Konzerten. Meine Klassenkameraden waren von meinen euphorischen Chorerzählungen und den wiederholten Reiseberichten zwar zeitweise genervt, beeindruckt waren sie dennoch.
Bine und Wippi hatten das Glück, ihr Hobby zum Beruf machen zu können. Sie waren immer zusammen und alle Chorkinder kennen die beiden und ihre kleinen, gegenseitigen Sticheleien. Zum 25-jährigen Bestehen des Kinderchores reiste ich damals aus England an, wohin es mich nach der Wende verschlagen hatte. Morgens sah ich Bine und Wippi zufällig auf dem Marktplatz, unweit des Rathauses. Ich hatte ein seltsames Gefühl in jenem Moment, denn beide strahlten wie zwei Honigkuchenpferde und Bine trug eine Blume in der Hand. Am Abend auf der Bühne, wusste ich warum. Auch sie hatten einen Beitrag zum Jubiläum: Beide gaben bekannt, dass sie nach 25 Jahren gemeinsamen Chorlebens an jenem Tag geheiratet hatten. Die Freude auf der Bühne und im Saal war riesengroß.
„Man muss alle Dinge in Szene setzen“, sagt Bine zu Ricarda und mir, am Tag des Gespräches in ihrem und Manfreds Haus. Sie habe ein unglaublich glückliches Leben sagt sie und sei ein zufriedener Mensch. Für sich schreibt sie heute lustige und traurige Chorgeschichten auf. Als Chorleiter nahmen beide am Leben der Familien teil und erlebten auch viele traurige Dinge. Doch auch manches Liebespaar lernte sich durch den Chor kennen und ehemalige Sängerinnen meldeten später ihre eigenen Kinder im Chor an.
„Ich konnte ein Leben lang das machen, was ich machen wollte“, sagt Bine. Den eigenen Weg findet man über das Selbstbewusstsein, fährt sie fort und rät, „Probleme sind zum Lösen da“. Schon im Kinderwagen, erzählt sie uns, habe sie den Erzählungen nach mit dem Kopf geschüttelt und ihrem Widerspruchsgeist Ausdruck verliehen. Aufgewachsen mit Eltern, die überall mit ihren Kindern sangen, konnte sich Bine frei entfalten. Die Leine war lang, doch fordernd waren die Eltern dennoch. Dabei genoss die Tochter das große Vertrauen von Vater und Mutter und die Streitkultur zu Hause. Viel Wert legten die Eltern auf Völkerfreundschaft, die Tagebücher der Mutter dienten Jahrzehnte später als Grundlage für die zwei Konzerte anlässlich des Kriegsendes vor 70 Jahren. Wochenlang übten die Kinder damals jüdische Lieder und beschäftigten sich mit diesem sensiblen Thema. Und dann sagt Bine jenen Satz, der als Motto für dieses Porträt steht: „Chor ist mehr als Singen.“ Chorarbeit geht nach innen und da „wo Kultur wegbricht, wird Platz für Gewalt.“ (Zitat A. Everding)
Richtig zur Ruhe kommen, abspannen, Kraft tanken, das können Bine und Wippi im Böhmerwald. Eine ganz andere Kindheit als Bine erlebte der junge Manfred. In Kattowitz, Polen, als Sohn einer deutschen Kaufmannsfamilie geboren, war Manfred ein kleiner Junge, als sein Vater in den Krieg musste. Die Mutter starb jung. Fünf Jahre lebte der Junge bei Verwandten in Opava (Tschechien) und so bleibt das Land ihm zweite Heimat. Erst spät fanden sich Vater und Sohn wieder. Halt in schweren Zeiten gab ihm die Musik, erzählt uns Wipi. Im Alter von zehn Jahren lernte er Geige, später wird Manfred Wipler Lehrer für Musik und Geschichte.
Auch meine Tochter hatte das Glück, das Chorleben unter Bine und Wippi genießen zu können. Im Chorlager wurde sie als „Frischling“ liebevoll aufgenommen und bekam eine Patin. Es gab Chorfamilien und feste Rituale in den Chorlagern, wie z.B. „die letzte Nacht“, die der Vorbereitung des letzten Tages diente. Da wurde es in einem Jahr plötzlich weihnachtlich, erzählen Bine und Wippi, in einem anderen Jahr gab eine Beach-Party. Die großen Chorkinder bereiteten stundenlang diese gelungene Scherze vor, die jeden erfreuten. Vor allem auch die Chorleiter und Betreuer. Geprobt wurde natürlich trotzdem.
Acht Jahre kämpften Bine und Wippi für ein Fortbestehen des Chores über ihren Ruhestand hinweg und für das Gehalt eines neuen Chorleiters. Im letzten Jahr übergaben sie den Chor bei einem Konzert an die Nachfolgerin. Es war ein bewegender Moment, als die beiden in einem Kreis standen, umringt von „ihren Kindern“. Und irgendwie bin ich froh, dass dieser Moment nicht zu meiner Kinderchorzeit gehört.
Vor zwei Tagen hatte ich Besuch von einer Chorfreundin, die heute in München lebt. Wir redeten über die vielen Chorreisen, die Fahrten im Bus und im Schlafwagen. Nach der Wende fuhren wir im Mai 1990 mit Ikarus Bussen nach Belgien zum Festival in Neerpelt. Ein unglaublich emotionaler Moment. Später kamen Österreich und Frankreich dazu. Irgendwann bin ich dann nach England gegangen und der Chor rückte in den Hintergrund. Heute weiß ich mehr denn je, was ich dem Chor verdanke: meinen Mut, die Freude an der Musik und am Singen. Und so trällere ich an diesem Abend und es macht (wieder) Spaß, im Chor von Bine und Wippi zu sein.
Diese sehen mit Sorge, dass die Chorentwicklung allgemein dramatisch zurück geht. Dass es Sportfeste an Schulen gibt, aber eben keinen Tag der Künste. Schulklassen werden immer größer und an manchen Schulen findet über längere Zeit überhaupt kein Musikunterricht statt. „Wir sind doch ein Kulturvolk“, sagen beide. Ihr Wunsch ist es, dass Kultur und Bildung wieder den Status bekommen, den sie verdienen. Hätten dann am Ende nicht alle was davon?
Sabine Bauer und Manfred Wipler wünschen sich, gesund zu bleiben, um noch viel Schönes erleben zu können. Und dabei genießen sie das Leben und die kleinen Dinge, wie die Spatzenfamilie an ihrem Gartenzaun.
(Text: Berit Ichite, Fotos: Ricarda Braun)